J. Schueler: Materialising identity

Cover
Titel
Materialising identity. The co-construction of the Gotthard Railway and Swiss national identity


Autor(en)
Schueler, Judith
Erschienen
Den Haag 2008: Aksant
Anzahl Seiten
199 S., Schwarzweiss- und Farbbilder
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kilian T. Elsasser, Ausstellungskonzeption, Museumsmanagement, Geschichte der Eisenbahn, Dozent Pädagogische Hochschule Luzern

Da keine ausgearbeitete Methodologie existiert, die Technikgeschichte mit der Entwicklung von nationalen Identitäten in Beziehung zu bringen, baut Judith Schueler ihre Dissertation auf den Erfahrungen der Studie von Gabrielle Hecht («The radiance of France. Nuclear power and national identity after World War II». Cambridge, 1998) auf, die die Relation des Aufbaus der Kernenergie in Frankreich mit dem Selbstverständnis Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht. Judith Schueler erarbeitet auf Grund der Methodik Hechts die Beziehung zwischen Identität und Technik heraus. Sie konzentriert sich nicht auf die politischen und die literarisch-wissenschaftlichen Quellen, sowie die Fest- und Erinnerungskultur, wie Guy Marchal («Schweizer Gebrauchsgeschichte». Basel, 2006) und das Schweizerische Landesmuseum («Die Erfindung der Schweiz 1848–1998». Zürich 1998). Judith Schueler untersucht bisher wenig beachtete technische Fachliteratur und populäre Werke, die oft eine grosse Ausstrahlung hatten. Judith Schueler wählt vier Zeitabschnitte der Geschichte der Gotthardbahn und analysiert, inwiefern die Gotthardbahn in Bezug zur schweizerischen nationalen Identität gesetzt wurde.

Judith Schueler stellt fest, dass in der Kontroverse 1875 um die gewählte Vortriebsart zum Tunnelbau keine schweizerische Argumentation aufgebaut wird, obwohl Franz Rzika, der führende Tunnelbauingenieur aus Österreich, sich öffentlich auf den Standpunkt setzt, dass Louis Favre statt der belgischen Vortriebsweise besser die österreichische wählen würde. Louis Favre folgt nicht einer nationalen Argumentationslinie, sondern unterscheidet zwischen einem akademisch-theoretischen und der von ihm gewählten pragmatisch-praktischen Vorgehensweise. Louis Favre begründet keine nationale Tunnelbautechnik, denn es existiert zu diesem Zeitpunkt keine etablierte Gruppe von schweizerischen Ingenieuren, die Rzika hätten Paroli bieten können.

Die Eröffnungsfeierlichkeiten 1882, die von den Signatarstaaten Italien, Deutschland und der Schweiz durchgeführt werden, preisen das Werk als völkerverbindend, das der Schweiz als Kleinstaat innerhalb Europas eine wichtige Rolle überantwortet. Durch die international angelegten Feierlichkeiten bekommt der Versuch der schweizerischen Regierung, sich als modernen und zivilisierten Mediator in Europa zu positionieren, eine grössere Wirkung. Innerhalb der Schweiz wird die internationale Linie als gemeinsames einigendes Projekt positioniert, das die Schaffenskraft und Innovation der Schweiz symbolisiert.

Die an den Eröffnungsfeierlichkeiten geäusserten Ideen werden durch die Gotthardbahn aufgenommen. Obwohl als Güterbahn konzipiert, propagiert die Bahngesellschaft die Fahrt durch den Gotthard als eine touristische Attraktion. Vor allem Touristen aus Deutschland und Österreich benützen das Wunder der Technik. Die Bahngesellschaft initiiert und finanziert unter anderem Reiseführer, die die Destination Gotthard in den Mittelpunkt stellen. Die Reise durch die Alpen wird von den Führern als ultimatives Schweizerlebnis propagiert. Die Bahn lässt die wilden Alpen erleben, zeigt die Schaffenskraft der modernen Schweiz und führt durch das politische Herz der Schweiz. Die Marketinganstrengungen der Gotthardbahngesellschaft standardisieren und prägen das Selbstverständnis der modernen Schweiz. Ein schweizerisches Unternehmen erzählt Ausländern, wie die Schweiz zu verstehen ist. Diese bringen auf ihren Reisen die Interpretation zurück in die Schweiz und stärken das propagierte Bild. Der Gotthard wird wie von Guy Marchal festgestellt zur nationalen Landschaft.

Am interessantesten ist die Studie der heute als schwülstig empfundenen Trivialliteratur der 1930er und 40er Jahre. Die Analyse Judith Schuelers zeigt, dass diese Literatur über den Bau des Gotthardtunnels Ausgangslage für eine Versöhnung zwischen der modernen industriellen und traditionell landwirtschaftlichen Schweiz zu deuten ist. In den weit verbreiteten Büchern wird die Geschichte des Baus des Gotthardtunnels nationalisiert. Im Zentrum der Geschichten stehen Konflikte zwischen Schweizern, die im Tunnel, und Schweizern, die als Bauern und Alphirten in den Alpen arbeiten. Der Konflikt wird aufgelöst, indem die Bemühungen der beiden Parteien als identisch angesehen werden. Sie kämpfen beide gegen die feindliche Natur, nur die Methoden wechseln. Diese in grossen Auflagen herausgegebenen Bücher mit der Baugeschichte des Gotthardtunnels verbreiten den Gedanken der Versöhnung zwischen der Arbeiterschaft und dem Bauernstand.

Die Dissertation zeigt gewisse Schwächen der Integration der Forschungsresultate in die allgemeine Geschichte der Schweiz. Interessant wäre zum Beispiel eine Diskussion der Jubiläumsfeierlichkeiten des 50-Jahr-Jubiläums der Gotthardlinie 1932, die in der Einweihung des Denkmals für die Opfer in Airolo kulminiert. Offen bleibt die Relation zwischen den Quellen der Eliten und der populären, technischen Diskussionen um die Bedeutung der Gotthardbahn als Symbol der nationalen Identität.

Guy Marchal erwähnt in seinen Forschungsarbeiten in einem Satz, dass die Bahnlinie beim Wandel der Definition der Schweiz von der Alpen- zur Gotthardnation eine wichtige Rolle spielt, Judith Schuelers Arbeit führt dies auf überzeugende Weise aus. Die Dissertation schliesst eine wichtige Lücke in den Forschungsbemühungen, der Fragen der Ausprägung und des Wandels der nationalen Identität der Schweiz. Sie setzt mit ihrem interdisziplinären Ansatz einen wichtigen Impuls der Erforschung der Beziehung der Technik- mit der Ideengeschichte. Am erstaunlichsten ist, dass Judith Schueler eine so grosse Lücke der schweizerischen Forschung findet, obwohl Publikationen über das Selbstverständnis der Schweiz und über die Geschichte der Gotthardbahn je viele säuberlich getrennte Tablare zu füllen vermögen.

Zitierweise:
Kilian T. Elsasser: Rezension zu: Judith Schueler: Materialising identity. The co-construction of the Gotthard Railway and Swiss national identity. Den Haag, Aksant, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 1, 2009, S. 152-153.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 1, 2009, S. 152-153.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit